Manche Kritiker, meine Damen und Herren, bezeichnen den französischen Schriftsteller Michel Houellebecq in Besprechungen seines neuesten Romans «Serotonin» als unbarmherzigen Sezierer unserer spätmodernen Konsumgesellschaft. In geradezu romantischer Manier desavouiere Houellebecq die Liebestöter Materialismus und Individualismus, die dem natürlichen Egoismus keine Schranken setzten. Und so weiter. Ich bin nicht dieser Ansicht. Für mich ist Houellebecq inzwischen weder Prophet noch Provokateur noch Poet, sondern längst ein Produkt. Er, der die konsumistische Spätmoderne kritisieren soll, ist längst ein Zeichen dieser Zeit, nämlich: eine Marke. «Serotonin» jedenfalls ist das mittelmässige Buch eines mittelmässigen Autors, der nur in Fragen der Vermarktung überdurchschnittlich begabt scheint. Das kann man ja auch als Talent anerkennen, allerdings nicht als literarisches.
Auch in Fragen der Vermarktung scheint bei Houellebecq freilich bisweilen die Stufe der Selbstparodie erreicht, gerade auch in seiner unangenehm koketten Verweigerungsästhetik, diesem scheinbaren Willen zur Hässlichkeit, der auch hässliche Gedanken miteinschliesst. Die sogenannte sexuelle Revolution von 1968 fungiert für Houellebecq als Ausweitung des marktliberalen Verdrängungswettbewerbs auf den Bereich der Sexualität, eine Ausweitung, die vor allem zu einem gnadenlosen (inzwischen digitalen) Attraktivitätswettbewerb und Frustration infolge Beischlafchancenungleichheit geführt habe. Das kennen wir schon. Nicht nur von Houellebecq, sondern auch zum Beispiel von der Liebessoziologin Eva Illouz.
Pornografie statt Paar-Narrativ
Illouz, wie Houellebecq eine typische Erscheinung der Zeit, die sie zu kritisieren vorgibt, singt seit rund 20 Jahren ein Lied davon, dass im spätmodernen Kapitalismus die Liebe auf die Prinzipien des Marktes heruntergekommen sei. Vor allem aufs Konkurrenzprinzip, was in erotischen Obsessionen bloss konsumistische Objektivierungen spiegelt und die Lust neben dem Kapital zum erbarmungslosen Differenzierungssystem mutiert hat. Dies als letzte und entscheidende Strategie des enthemmten Marktes zur Zerstörung des Paar-Narrativs, an dessen Stelle die allgegenwärtige Pornografisierung trete. Und so weiter.
Alter Wein in alten Schläuchen. Die Botschaft von «Serotonin», dass der Liberalismus eine Form spiritueller Enteignung befördere, und damit Vereinsamung, Entfremdung, Ziellosigkeit, suggeriert einen Gegensatz von Liebe und Freiheit, der antiliberal und obendrein intellektuell reichlich flach ist. So auch bei Illouz in der Botschaft, dass Freiheit unglücklich mache. Derlei Einsichten haben, egal, wie spätmodern sie sich gerieren, etwas Vormodernes an sich; genauso vormodern wie Houellebecqs Bild der Frau als Schoss der Familie (beziehungsweise abwechselnd als Schlampe und Schoss der Familie). Dabei kennt Houellebecqs zynische Wohlstandsverzweiflung gelegentlich auch interessante Einsichten, etwa wenn er schreibt, wir wären «in gewisser Weise ins 18. Jahrhundert zurückgefallen, in dem die Zügellosigkeit einer bunt zusammengewürfelten Aristokratie vorbehalten war, einer Mischung aus Abstammung, Glück und Schönheit». Dies trifft, zufällig oder nicht, ziemlich genau und originell eine Instagram-Gesellschaft, in der plakatierte Ausschweifungen und die feinverästelten Empfindlichkeiten der sogenannten politischen Korrektheit eine unbehagliche Kohabitation eingegangen sind.
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